Päd. Vorbilder
Friedrich Fröbel
Der Vater des Kindergartens – Blick in sein Leben
Auszug aus der Ansprache zur Einweihung des neuen Kindergartenhauses
Ein Mitarbeiter von Friedrich Fröbel hinterließ für die Nachwelt folgenden Bericht:
„… Wir gingen mit Friedrich Fröbel über den Steiger nach Blankenburg in Thüringen (der Steiger ist wohl ein Berg oder Höhenzug). Da rief er wiederholt: Wenn ich doch nur einen passenden Namen für mein jüngstes Kind (Vorschul-Spiel- und Erziehungsstätten) wüsste! Blankenburg lag zu unseren Füßen und er ging sinnend einher. Plötzlich blieb er wie gefesselt stehen und sein Auge nahm einen fast verklärten Ausdruck an. Dann rief er laut in die Berge hinein, dass es widerhallte aus allen vier Winden: „Kindergarten soll die Anstalt heißen!“ …
Im Juni 1840 begründete Friedrich Fröbel
den „Allgemeinen deutschen Kindergarten“ im Rathaussaal zu Blankenburg.
Die pädagogische Aufgabe der neuen Einrichtung formulierte er folgendermaßen:
„Kinder des vorschulfähigen Alters nicht nur in Aufsicht zu nehmen, sondern ihnen eine ihrem ganzen Wesen entsprechende Betätigung zu geben; ihren Körper zu kräftigen, ihre Sinne zu üben und den erwachenden Geist zu beschäftigen; sie sinnig mit der Natur und Menschenwelt bekannt zu machen, besonders Herz und Gemüt recht zu leiten … Im Spiele sollen sie freudig und allseitig, alle Kräfte übend und bildend, in schuldloser Heiterkeit, Einträchtigkeit und frommen Kindlichkeit sich darleben, für die Schule und kommenden Lebensstufen sich wahrhaft vorbereiten, wie die Gewächse in einem Garten unter dem Segen des Himmels und der aufsehenden Pflege des Gärtners gedeihen.“
Friedrich Fröbel, als Vater des Kindergartens bekannt, lebte von 1782 bis 1852, in einer Zeit, in der das Volk der Dichter und Denker eine bedeutende Aufbruch- und Erweckungszeit erfuhr. Friedrich Fröbel war der 6. Sohn einer Pastorenfamilie. Seine Mutter starb einige Monate nach seiner Geburt. Wechselnde Bezugspersonen, große Strenge des Vaters und das Unverständnis der Stiefmutter bewirkten eine innere Vereinsamung des Kindes.
In Erinnerung an den frühen Verlust seiner Mutter schrieb Friedrich Fröbel rückblickend:
„Ich habe einmal ein schönes Gemälde gesehen, wo eine sitzende Mutter die kleine Schar ihrer lieben Kinder um ihren Schoß versammelt hat, die Mutter redet zu ihnen und die Kinder nehmen achtsam jedes Wort ihr von den Lippen, um es in ihrem Gemüte zu bewahren und zu bewegen …
Doch meine Mutter konnte nie so zu mir reden, mir also auch nie den Sinn ihrer Rede deuten, denn sie starb … noch ehe ich mein erstes Lebensjahr durchlebt hatte; allein der mit jedem wiederkehrenden Frühling sich von neuem in hoffnungsvolles Grün kleidende Hügel ihrer Ruhestatt mit seinen heiter strahlenden Blumen war mir der seelenvolle, vertrauende Blick nach oben mit welchem mich hoffnungsvoll die eingeschlafene Mutter höherer Leitung, höherem Schutz übergeben hatte. In diesem frühen Tod meiner Mutter, verbunden besonders auch mit dem von ihr empfangenen Gemüte fand ich frühe und finde ich noch bis jetzt den Mittelpunkt meiner Lebensschicksale; denn meinem Gemüte wurde so frühe die größte Aufgabe gegeben, Leben und Tod, Einigung und Trennung, Unsichtbares und Sichtbares zu einen … und Widersprüche zu lösen“
Friedrich Fröbel, ein Mann, der sich gründlich mit den Fragen des Lebens auseinandersetzte und sich sagte: Eben darum ich so wenig Liebe in meiner Kindheit erfuhr, will ich mich anderer Kinder annehmen und ihnen meine Liebe und Zuwendung schenken. Sie sollen es besser haben als ich!
In Fröbels Lebensbild finden wir ein wunderbares Vorbild, wie wir uns als Mensch mit Gottes Hilfe aus allem inneren Elend erheben können! Das wir alles ein kleines bißchen besser machen wollen, als die Menschen, die wir kritisieren.
Betrachten wir den in den Zitaten dominierenden Begriff „Gemüt“, (der fast völlig aus unserem Sprachschatz entschwunden ist) der des Menschen Innenleben beschreibt, das in sich hineinhorchen, in sich ruhen, sich von Gottes Liebe und Fürsorge getragen fühlen. Das Gemüt: Die „fühlende Seele“ laut Eisler-Wörterbuch. In unserer Gesellschaft ist vorrangig Intelligenz gefragt: Das „denkende Bewusstsein“
Wir tun gut daran, wenn wir uns auf diese alten Werte rückbesinnen, denn sie haben nachweislich Segen für unser Volk und viele andere Völker gebracht. Gerade unsere kleinen Kinder brauchen Gemütsbildung. Ihr Empfindungssinn, ihr Mitfühlen, ihr Einfühlen soll gebildet werden um beziehungs- und gemeinschaftsfähig zu werden.
Einig waren sich Friedrich Fröbel und Heinrich Pestalozzi (sein Vorkämpfer und Lehrer), „dass die ersten Lebensjahre eines Menschen, die wichtigste Zeit für das ganze Leben seien und hier der Grund gelegt wird zu dem ferneren Dasein und Streben.“
Wenn wir meinen, dass Friedrich Fröbel zu Lebzeiten Anerkennung für sein Wirken erfahren habe, so berichtet uns die Geschichte viel von Hass, Verleumdung und Verfolgung. Denn als Fröbel auf dem Gipfel seines Schaffens war, berichtet der Biograph Winfried Müller, sollte er nocheinmal mit politischer Reaktion, Ignoranz und Intrigenwirtschaft … schlechte Erfahrungen machen.
Im August 1851 (also 11 Jahre nach Gründung) wurde im Preußischen Staatsanzeiger eine Ministerialverfügung veröffentlicht, die Kindergärten unter dem Vorwand des Atheismus und Sozialismus verbot.
Fröbel glaubte anfangs noch an ein Missverständnis, doch als Eingaben und Petitionen ohne Erfolg blieben, zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück. Er starb im Juni 1852. Die Schüler Fröbels trugen die Kindergartenidee jedoch in alle Welt hinaus, so dass sich 1860 (9 Jahre danach) die preußische Staatsregierung gezwungen sah, das Kindergartenverbot zurückzunehmen.
Das deutsche Wort „Kindergarten“ wird heute in über 20 Ländern unübersetzt verwendet, dafür heißt er bei uns in Deutschland zunehmend KITA (Abkürzung von Kindertagesstätte).
Für uns alle, die wir mit Kindern zu tun haben, zum Schluss die Definition Friedrich Fröbels über Erziehung: „Erziehung ist Beispiel und Liebe – sonst nichts!“
Heinrich Pestalozzi
nach Mary Lavater-Sloman: „Die Geschichte seines Lebens“ von Erwin Zitta nacherzählt im Januar 1959 (Auszüge)
Im Vorwort seiner Lebensschilderung steht:
„Pestalozzi war ein Vorbild für die Menschen, die guten Willens sind, und ein Trost für alle, die sich auf ihrem Lebensweg mit bösen Mächten schlagen …
Er kannte weder Neid noch Ehrgeiz, noch Geldgier; nie kam eine Lüge aus seinem Mund, und stets hielt er die Hand zur Versöhnung ausgestreckt.“
Dies bekundet eine seiner letzten Bitten:
„Prüfet, was ich versucht – und vollendet was ich begonnen.“
„Alles für andere, für sich nichts!“ So wurde es an seiner Grabstätte eingemeißelt.
Am 12. Jan. 1746 wurde Johann Heinrich Pestalozzi in Zürich geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters und mehrerer Geschwister wuchs er unter der Fürsorge seiner Mutter und einer treuen Magd der Familie auf. Pestalozzi besuchte die Schulen, die einem intelligenten jungen Stadtbürger offen standen und kam so mit den berühmten Personen der schweizerischen Aufklärung in Kontakt. Als Knabe erlebte er schon die grenzenlose Not der verarmten Landbevölkerung. Die Habsucht und grenzenlose Willkür der reichen Bürger brachte dem Landvolk der Schweiz immer mehr Elend und Verrohung. Ganze Horden von Kindern, vertriebenen Bauern und sittlich verkommenen Menschen zogen hungernd, plündernd und stehlend durch die Lande. Sie wurden wie Tiere gejagt, gefangen und hart bestraft – und sanken immer tiefer.
Theologie- und Jurastudium brach er ab und begann eine landwirtschaftliche Lehre. Pestalozzi wollte dem armen Landvolk helfen und es aus dem Elend retten. 1767 lernte er Anna Schultheß kennen und verliebte sich in die acht Jahre ältere Frau, die er gegen den heftigen Widerstand der Brauteltern 1769 heiratete.
Heinrich Pestalozzi gründete den „Neuhof“ bei Birr, der vorbildend sein sollte, wie der Bauernstand geistig und sittlich zu heben wäre. Jedoch misslangen seine landwirtschaftlichen Unternehmungen. Lange Trockenheit und Unwetter vernichteten überall die Ernte. Die Hungersnot des Jahres 1770 stieg immer höher. Ein urplötzlicher Hagelschlag vernichtete alle seine Hoffnungen, seine Krappwurzelkulturen, seine Futter-Esparsette, alles dahin, die Hoffnung von Jahren dahin.
Ein Zeitgenosse beschrieb ihn (J. Reithard):
Zu der Vernachlässigung seines äußeren gesellte sich noch eine im ersten Augenblick fast erschreckende Häßlichkeit des Gesichtes, welche durch die wilden, struppigen Haare noch beträchtlich erhöht wurde. Bei näherem Anschauen aber verlor sich der erste Eindruck ganz und gar und machte einer Hinneigung Platz.
Das blaugraue Auge strahlte – zumal im belebten Gespräch – so von Liebe und Geist, und über das runzelige Antlitz war so viel Würde und Anmut ausgegossen, dass man ihn hätte Vater Pestalozzi nennen müssen.
Viele Menschen haben Pestalozzi verspottet, seine Herzenstriebkraft als Größenwahn und Torheit verurteilt. Was aber auf dem Neuhof an Vorbild der Menschenliebe geschah, war noch nie da gewesen. Wohl hatte man zu allen Zeiten Almosenpflege getrieben, Tollhäuser und Gefängnisse erbaut, aber noch nie hatte jemand versucht, die scheinbar Verlorenen als gleichwertige Mitmenschen zu behandeln, das Geschöpf Gottes in ihnen zu verehren und sich nicht höher zu dünken.
Das tiefe Erleben der Not des Landvolkes, die Bettelei und das Elend der Armenhäusler bewog ihn zur Gründung einer Anstalt für arme Kinder, um aus ihnen, durch Verbindung von Arbeit und Unterricht, arbeitsfähige, geistig geweckte, sittlich tüchtige Menschen zu machen. So wird er – „der Vater der Armen auf dem Neuhof“.
Jedoch verlor sich nach einem ersten Aufwallen der Bewunderung das Interesse seiner Freunde, und auch der Staat gab keine Unterstützung mehr, weil „der geschäftliche Teil“ eine Utopie sei. So musste er die Weber und Spinnmeister entlassen, die Knechte gingen und ließen sein Land unbebaut. Sein Weib war leidend, sein einziger Sohn durch die seltsame Miterziehung mit Bettelkindern in seinem zarten Wesen verdrängt und verschüchtert. Die Seelenqualen, die er in dieser Zeit ertrug, haben ihn für immer gezeichnet; er glaubte seinen eigenen Taten nicht mehr. Das Bewusstsein seines vermeintlichen Unwerts mündete in Selbstverachtung.
Pestalozzi schrieb in seiner Angst um die Auflösung des begonnenen Hilfswerkes an seinen Freund, den Verleger Iselin nach Zürich:
„Ich will einen Fürsten nur um einen freien Sitz auf einem Landhaus und um einige arme Kinder bitten, mit denen ich als Vater, ohne Geräusch, im Stillen allein gelassen, im Kleinen arbeiten will. Ich wollte am liebsten unbekannt, ohne Namen als ein gemeiner Landmann erscheinen … Wenn ich jahrelang bei Wasser, Brot und Herdäpfeln im niedrigsten Strohdach für diesen Endzweck arbeiten sollte, ich lechzte der Gefahr und wäre des Erfolges in der größten Niedrigkeit gewiss.“ Doch die Not wuchs, wurde unerträglich, und dann kam, was noch furchtbarer war: er musste die geliebten Kinder fortschicken. Am furchtbarsten war es, seine Kleinen als Verdingkinder zurück in die Grausamkeiten zu geben, denen er sie entrissen hatte. Und als er diesem Rest Mammon zuliebe alle seine Kinder in das Elend zurückgeschickt hatte, brach er zusammen.
Völlig verstört, dem Wahnsinn nahe, irrte er über seine Äcker, das junge Gesicht zerfurcht, die Schultern verkrümmt, den Rücken gebeugt, – ein Geschlagener.
Wie schreibt er jedoch über diese Zeit nach sieben Jahren:
„Jetzt, selbst im Elend, lernte ich das Elend des Volkes und seine Quellen immer tiefer erkennen; so erkennen, wie sie kein Glücklicher erkennen kann. Ich litt, wie das Volk litt. Aber mitten im Hohngelächter der mich wegwerfenden Menschen, mitten in ihrem lauten Zuruf: Du Armseliger, du bist weniger als der schlechteste Taglöhner imstande, dir selber zu helfen, und bildest dir ein, dass du andern helfen könntest! – Mitten in diesem hohnlachenden Zuruf, den ich auf allen Lippen las, hörte der mächtige Strom meines Herzens nicht auf, einzig und allein nach dem Ziele zu streben, die Quellen des Elends zu stopfen, in das ich das Volk um mich her versunken sah.
Mein Unglück lehrte mich immer mehr Wahrheit für meinen Zweck. Was niemand täuschte, das täuschte mich immer; aber was alle täuschte, das täuschte mich nicht mehr. Ich kannte das Volk, wie es um mich her niemand kannte.
Hilfe in größter Not:
Die äußerste Not schien in den Neuhof hereinzubrechen, da wagte Pestalozzi es, zu seinem lieben Nachbarn, Junker Niklaus Albrecht Effinger zu gehen, um ihn um ein Darlehen zu bitten. Mit Herzensgüte reichte dieser ihm 500 Gulden, eine große Summe. Aber – so heißt es in der Lebensschilderung – eine höhere Macht stellte ihn auf die Probe, ob er „der Tränen seines Weibes vergessen“ konnte, um zuerst der Bruder des darbenden Volkes zu sein, wie er es ihr einst als erste Pflicht vor Augen gestellt hatte. Auf dem Heimweg sah er, dass Haus und Scheuer eines Bauern abgebrannt waren. Gegen einen solchen Schlag gab es für die Verarmten keine Hilfe. Wer konnte zwei Erwachsene und acht bis zehn Kinder aufnehmen und ernähren? Der Mann würde als Taglöhner arbeiten, die größeren Kinder würden bei reichen Bauern verdingt werden, die Mutter mit den Kleinen in der Gegend umherziehen, um zu betteln und bald zu verkommen.
Pestalozzi sah, während er den Klagen lauschte, diese Zukunft der Verunglückten voraus. Hier würden dem Staat wieder – wie so oft – aus der Not und Hilflosigkeit des Volkes verbrecherische Menschen erwachsen. So gab er denn sein Geld frohen Herzens hin. Vom Dank der geretteten Bauernfamilie ist nichts bekannt geworden, auch nichts von Annas Meinung. Wenn sein Weib auch bitter schelten und sich beklagen konnte, eines Opfers war sie immer fähig: gegen ihres Mannes reine Güte kannte sie keine Auflehnung.
Und nun geschah ein Wunder! Es war, als sollten Anna und Heinrich beide die gesegnete Hand Gottes spüren. Ein junges, frisches, starkes Mädchen stand auf der Schwelle des Hauses und auf Pestalozzis Frage, was sie wolle, ob er ihr helfen könne, sagte sie: Nein, sie wolle helfen! Sie, Elisabeth Näf von Kappel, habe bei seinen Verwandten gedient; seit kurzem sei sie frei und wolle seine Dienstmagd sein. Er dankte ihr vom Herzen, wies auf seine große Notlage hin und bat sie, wieder heimzugehen. Sie aber blieb und half selbstlos 40 Jahre lang!
Hier dürfte wohl der Himmel einen seiner Engel auf die Erde gesandt haben, um das Heiligste in dieser Menschenbrust vor dem Versiegen der Herzensquelle zu bewahren! Elisabeth wurde das Vorbild für Pestalozzis Idealgestalt seiner weltbewegenden Schilderungen.
Singen und Beten, das war ihre Schutzsphäre gegen die rauhe Außenwelt, und als Sonnenschein wirkte sie und linderte Not und Elend. Er spricht von ihr: „In der höchsten Einfachheit und Unschuld hatte sie eine Festigkeit des Willens und eine Reinheit des Herzens.“
So erscheint 1781 sein Werk „Lienhard und Gertrud“, ein Buch für das Volk. Es ist ein Hohelied der Liebekraft und sollte dem armen Landvolk sittlichen Boden unter die strauchelnden Füße stellen. Das Buch erregte zwar viel Aufsehen, aber es folgte keine merkliche Besserung für das Volk. Weitere Werke folgten für Mütter, für Bauern, für Lehrer und für eine Reform der Gesetze Helvetiens.
Als Schulmeister in Burgdorf kämpfte Pestalozzi gegen das geistlose Schulehalten und ersann eine einfachste Methode, nach der selbst die Mütter ihre Kinder mit den Dingen der Welt und ihrer Handhabung bekannt machen konnten.
Inzwischen brach die französische Revolution alle bisherigen Schranken, und ihr Freiheitsgeschrei drang auch in Helvetia ein. Wie arg fühlten sich aber alle „Freiheitsgeister“ von ihren französischen Brüdern enttäuscht, ja verraten, als die ersten Greuelnachrichten von dem blutigen Terror die Welt erschütterten! Schiller, dessen Begeisterung für „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ angesichts dieses Wütens des Pöbels in Frankreich schon längst abgekühlt war, lehnte das ihm angetragene „Ehrenbürgerrecht“ ab, Pestalozzi nahm es an, noch im Befangensein eines Freiheitsrausches, der die ganze Welt wie mit Feuerhauch zu durchglühen suchte.
Das Schicksal Europas und das der Schweiz nahm seinen Gang. Es entstand die Helvetische Verfassung, die viele veraltete Vorrechte der Stände abtrug. Die französischen Heere brachen überall in die Kantone ein, das Volk stellte sich heldenmütig mit Frau und Kind diesem Wüten, Morden und Sengen entgegen. Dadurch entstand namenloses Elend. Vagabundierende Horden von heimat-, eltern- und vaterhauslosen Kindern und Jugendlichen durchstreiften die Dörfer, wurden gejagt, gefangen und wieder dem Elend preisgegeben. Pestalozzi schmerzte es zutiefst.
Währendessen wurde Stapfer, ein Freund Pestalozzis Unterrichtsminister des neuen demokratischen Bundesstaates Helvetien. Pestalozzi erhielt den Auftrag, im Kanton Unterwalden, in Stans, ein Waisenhaus zu gründen. Unter schwierigen Verhältnissen in selbstloser Hingabe an sein Werk gelang es ihm, die verwahrlosten Kinder zu betreuen. Er litt mit ihnen, er hungerte mit ihnen. Eine Mauer von Hass und Unverständnis umgab ihn. Doch wie erstaunt war er, als sein Unterricht höchst erfreuliche Erfolge zeitigte! Ein solcher Goldschatz lag im Volke verborgen?
So schrieb er an seine edle Gönnerin und Freundin Romana von Hallwil:
„Es geht, es geht in allen Teilen! Ich lösche die Schande meines Lebens aus. Die Tugend meiner Jugend erneuert sich wieder … zerbrechet den Becher meines Elends und trinket aus einem Menschenglas auf meine Errettung, auf mein Werk und auf meine Besserung. Es ist unglaublich, was die Kinder lernen und wie sie an mir hangen. Gott! sollte auch dieses Wachsen wieder zum Traume werden, wie unglücklich wäre ich! … – Doch ich soll nicht eitel werden, aber freuen darf ich mich doch.“ Wieder wurde er verleumdet und man raunte sich schmutzige Dinge zu. Da führte Pestalozzi eines Tages im Frühling seine achtzig Kinder nach Luzern, um sie in ihrer Verwandlung in gesunde, fröhliche, aufgeweckte Kinder dem Direktorium vorzustellen. Es war ein Triumphzug! Man jubelte, man beschenkte seine Kinder, man drückte seine Hände, sah man doch mit eigenen Augen, welches Wunder dieser merkwürdige Mann getan hatte.
Als ihn ein Freund sanft ermahnte, doch auch auf sich selbst zu achten, sagte er: „Laß mich, ich bin arm, ich will arm sein. Ich will nur reich durch meine armen Kinder sein; die verstehen mich.“
Viele Menschen kamen nach Stans skeptisch, misstrauisch, verhetzt durch Neider, doch gingen hoch erstaunt über solche Wunder zurück. Denn was Pestalozzi an den verwahrlosten Kindern getan, zeugte von einer übermenschlichen Liebe und Geduld. Im Anfang schien es Spiel, wenn Pestalozzi die Kinder das Alphabet, fünffach, nach allen Vokalen zusammengesetzt, im Chor herunterschnarren ließ. Die Kinder lernten spielend und waren imstande, ihren winzigen Wortschatz weit auszudehnen, dabei stets wissend, was sie aussprachen. Kein mechanisches Nachplappern, sondern ein Aufwärtsschreiten zu bewusstem Verstehen, das war seine Methode.
Aristokratische Stände riefen das österreichische Heer gegen die herrschenden Franzosen zu Hilfe. Stans, das am Wege zu diesen kriegerischen Operationen lag, sollte mit seinem Kloster, das nun als Waisenhaus so vielen Segen ausstrahlte, zu einem Militärhospital verwandelt werden.
Es war ein furchtbarer Schlag für Pestalozzi! Der Boden schien unter ihm zu wanken, sein Geist wurde wirr in dieser Zeit – hieß es. Da stand er, mit 53 Jahren ein Greis geworden, machtlos vor der Sinnlosigkeit der Zerstörung, machtlos, den Friedensweg fortzusetzen, machtlos vor der Trennung von seinen Kindern. Wieder, wie vor 20 Jahren auf dem Neuhof! – Er hatte sie alle an „die geistige Tafel geladen“, sie gelehrt, erwärmt und über sich selbst erhoben.
Am 8. Juni 1799 ist der schwere Tag des Abschieds. Da gingen sie hin, gesund, blühend, in sauberen Kleidern, aber unter verzweifeltem Schluchzen. Die gleichen Kinder, die vor sechs Monaten in seinen Armen eine Heimat gefunden hatten! Was hätte er der Welt zeigen können, wenn ihm Jahre vergönnt gewesen wären! Auf dem Landsitz seines jungen Freundes Fellenberg fand der Geschlagene eine Raststätte. Hofwil wurde in eine Erziehungsanstalt geformt, der junge Fellenberg leitete sehr umsichtig und klar das Institut.
So schrieb er an seine edle Gönnerin und Freundin Romana von Hallwil (weiter):
Doch Pestalozzi sank in der Umdüsterung seines Gemütes in die endlose Tiefe des „Warum? Warum kann ich nicht sterben, warum geschah mir solche Unbill, warum, ach Gott, warum?“ Freunde nahmen Pestalozzi auf. Nach sechs Wochen fand er zu seinem Herzenswesen zurück. Hier schrieb er einen Brief an Geßner, ein Hohelied über die Entfaltung der Kindesseele unter der Sonne der Liebe. Es heißt: Wenn je ein Werk mit Herzblut geschrieben wurde, dann ist es dieser Brief, nachdem die Welt ihm das heilige Gefäß seines Wirkens grausam aus den Händen geschlagen hatte.
Hier stehen die Worte eines Mannes, der durch Leid und Kampf zum Dichter wurde. „Ich war von morgens bis abends allein in ihrer Mitte. Meine Tränen flossen mit den ihrigen, und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren außer der Welt, sie waren bei mir und ich war bei ihnen … Ich betete und lehrte noch im Bett mit ihnen, bis sie einschliefen; sie wollten es so … Sie fühlten, dass mir Unrecht geschah, und ich möchte sagen, sie liebten mich doppelt dafür“
Pestalozzi gesundete und wurde wieder Schulmeister. Zu seiner Zeit war ein Schulmeister weit verächtlicher als ein Ziegenhirt. Schuster, Invaliden, usw., hielten Schule in ihren Stuben. „Kaum öffnet man die Schulstube“, so heißt es in einem Bericht aus dieser Zeit, „so drängt sich jedem ein niederschlagender Dampf entgegen. Dicht aneinander gepresst, in engen, dunklen Gemächern, sitzt da der größte Schatz unseres Landes, die Jugend, und atmet zum Verderben ihrer Gesundheit dicke, erhitzte und faule Dünste ein. …“ Pestalozzi begann wieder ganz unten: „… man muss mit grauen Haaren von unten auf dienen“, schrieb er und diente bei den Bauernkindern weiter, bis er im Schloss Burgdorf eine Erziehungsanstalt errichtete und hierzu einige begeisterte Junglehrer zu Mitarbeitern bekam. Hier erfand er die Schiefertafel, benützte Kartonkärtchen zum Buchstabieren und ließ seine Kleinen an Äpfeln und Nüssen rechnen mit dem Erfolg, dass seine Schüler große Fertigkeit in kürzester Zeit erreichten und dies hohe Anerkennung fand.
Das Institut gedieh, vom Kinde eines Barons bis zum Bettelknaben, alle wurden gleich geliebt und belehrt. Männer aus allen Ländern Europas machten sich auf, um diesen merkwürdigen Mann bei der Arbeit zu sehen. Wieland und Herder in Weimar, Nicolovius in Eutin, viele Dichter und Edeldenkende wurden Verkünder Pestalozzis Erziehungslehre. Ein Emmentaler Bauer, den Pestalozzi selbst umherführte, rief aus: „Herr, ihr habt ja keine Schule, sondern eine Haushaltung!“ Kein passenderes Lob hätte dieser Mann des Volkes geben können.
Seine Methoden sind heute längst abgewandelt, doch das Kind zu einem achtungsgebietenden Mitmenschen erhoben zu haben, diese enorme Neuerung ist Pestalozzis Verdienst um die Menschheit. Seine Liebe trug unerwartet viele edle Früchte! Nur keine Strafen! Um Gottes willen, nur keinen Ehrgeiz, nur keine Preisverteilung! rief Pestalozzi aus. Einer soll dem andern helfen, der Begabte dem Unbegabten. Und, er war nicht der Herr Direktor, sondern Vater Pestalozzi!
Als die revolutionären Ereignisse ihm die Staatsunterstützung entzogen, zog er nach Münchenbuchsee mit den Seinen. Als er von einem schweren Pferdefuhrwerk fast überfahren wurde und wie durch ein Wunder den Hufen der Pferde entrann, fühlte er in sich eine tiefe, heiligende Ruhe; er wusste sich in Gottes Hand!
„Ich will jetzt nichts mehr. Ich will jetzt nur, was Gott will, und das wird sich von selbst geben. Es ist eine Ruh‘ über mein ganzes Sein verbreitet, die ich durch mein Leben nicht kannte und die mich so glücklich macht.“ Sein Weib Anna, fast 70jährig, war durch Leiden und Bitternis gereift.
Wie Pflugscharen zog alles Erleben durch die harte Erdrinde ihrer Seele, und das tiefe, fruchtbare Erdreich ihrer edlen Natur kam zum Licht.
1805-1825 ist Pestalozzi Leiter eines berühmten Knabeninstitutes in Yverdon: Wieder griff die leidende Menschheit nach den helfenden Händen dieses Mannes und überließ ihm das Schloß Yverdon, wo er bald mit vielen bedeutenden Lehrern, Zöglingen und Besuchern aus aller Welt ein reiches und buntes Leben weckte.
Pfarrer und Ratsherren eiferten, dass zu wenig Religion in diesem Institute wäre – doch keiner gedachte seiner Abschiedsrede: „Es freut mich, dass ich noch am letzten Tag meines Hierseins den Anlass habe, euch an Jesus Christus zu erinnern. Denkt, wie er sich den Menschen hingegeben hat, um für sie in Gottes Willen zu leben.“
So konnte nur Einer sprechen, der das Wirken Christi in seiner unermesslichen Bedeutung in sich aufgenommen hatte. In seiner unbestechlichen Demut schrieb er: „Ich bin nur das Werkzeug in der Hand der Vorsehung!“ Eine bedeutsame Rede hielt er vor den uneinigen Lehrern seiner Anstalt, darin sagte er: „Werdet besser als ich, damit Gott sein Werk durch euch vollende, da er es durch mich nicht vollendet. Lasst euch vom Schein des Erfolges nicht täuschen, wie ich mich davon täuschen ließ.“ – … und wieder zerbrach man sein Werk.
Als alter Mann zog Pestalozzi auf den Neuhof zu seinem Enkel, ihm folgten noch einige Waisenkinder. Am 17. Februar 1827 starb Pestalozzi im Alter von 81 Jahren. Ein Denkmal in Birr trägt die Inschrift:
Hier ruht Pestalozzi
Retter der Armen auf Neuhof,
Prediger des Volkes in Lienhard und Gertrud,
zu Stans Vater der Waisen,
zu Burgdorf und Münchenbuchsee
Gründer der neuen Volksschule,
in lferten Erzieher der Menschheit.
Mensch, Christ, Bürger.
Alles für andere, für sich nichts!
Segen seinem Namen!
Ein Maler seiner Zeit sagte aus, keiner sei imstande, Pestalozzis Antlitz zu malen, da sich niemand getraue, seine Hässlichkeit und in ihr zugleich seine von innen her strahlende Schönheit festzuhalten. Denn war auch sein Körper das Ziel vieler Spötter, so waren seine Augen strahlend in unbeschreiblicher Schönheit und Größe! Tipp: www.heinrich-pestalozzi.info
Heinrich Pestalozzi (Erziehung)
Grundgedanken Pestalozzis zu Erziehung und Bildung
von Dr. Arthur Brühlmeier (CH)
www.heinrich-pestalozzi.de
zum Autor: www.bruehlmeier.info
Die Aufgabe: Erweckung von sittlichem Leben
Für Pestalozzi ist das Ziel jeglicher Erziehung der sittliche Mensch. Dieser strebt nach dem Guten, trachtet nach der Liebe, ist verwurzelt in religiösem Glauben und stellt seinen Egoismus wo immer möglich zurück. Er fühlt sich innerlich frei, das Gute zu wollen, und ist darum „Werk seiner selbst“.
Auch Pestalozzi weiß:
Es ist nicht leicht, als sittlicher Mensch zu leben, denn in der menschlichen Natur liegt eine Spannung. Auf der einen Seite wirken Triebe und der Egoismus, denn die „sinnliche, tierische Natur“ heißt den Menschen nach Lust streben und jede Unlust vermeiden. Dem stehen auf der andern Seite das Gewissen und die bessere Einsicht entgegen. Sie sind Ausdruck der „höheren, ewigen, göttlichen Natur“ und lassen den Menschen erkennen, dass dann, wenn er der tierischen Natur freien Lauf lässt, Streit, Kampf, Lieblosigkeit, Krieg und Elend entstehen und das Leben ohne wahre Erfüllung bleibt. Es ist nun eine der grundlegendsten überzeugungen Pestalozzis, dass es dem Individuum nur durch Erziehung möglich wird, seiner höheren Bestimmung gerecht werden zu können und in sich selbst das sittliche Leben zu erwecken. So stellt sich denn die Frage: Wie kommt der heranwachsende Mensch in die Lage, dies tun zu können?
Naturgemäße Entwicklung von Kräften und Anlagen
Nach Pestalozzis überzeugung liegen die Voraussetzungen zu einer sittlichen Lebensgestaltung in der Natur des Menschen. Jedem Kinde sind – in vorerst noch unentwickeltem Zustand – Kräfte und Anlagen mitgegeben. Diese lassen sich entfalten, ja sie drängen auf der Grundlage eines immanenten Triebs, der „Strebkraft“, zur Entfaltung. Dabei ist von ausschlaggebender Bedeutung, ob sie sich in den Dienst der Selbstsucht stellen oder aber einer sittlichen Lebensgestaltung dienen. Auch zu dieser sind nämlich dem Kinde natürlicherweise Kräfte und Anlagen mitgegeben. Sie lassen es seinen Egoismus überwinden und sich dem Du zuwenden. Pestalozzi nennt diesen natürlichen sozialen Trieb „Wohlwollen“. Aus ihm entfalten sich allmählich – sofern die Erziehung gut ist – die sittlichen Grundgefühle der Liebe, des Vertrauens und der Dankbarkeit, worauf alle weiteren sittlich-religiösen Kräfte beruhen. Neben diesen „Herzenskräften“ gilt es, auch die intellektuellen (geistigen) und die handwerklichen Kräfte zu entfalten. Aber es ist zu beachten: Herz, Kopf und Hand entwickeln sich nach je eigenen Gesetzmässigkeiten. Aufgabe des Erziehers ist es, diese Gesetzmässigkeiten kennenzulernen und sich ihnen zu unterwerfen.
Grundgedanken Pestalozzis zu Erziehung und Bildung
Alle erzieherischen Einflüsse müssen sich unter allen Umständen der menschlichen Natur unterordnen. „Naturgemässheit“ ist somit die oberste Forderung Pestalozzis an die Erziehung. Nur sie ist „bildend“, und jeder nicht naturgemässe Einfluss auf den Menschen ist „verbildend“.
Sittliche Gefühlsstimmung durch Bedürfnisbefriedigung und Leben in der Ruhe
Grundlegend für die gesunde Entwicklung des Kindes ist nach Pestalozzi die Mutter-Kind-Beziehung. Die drei sittlichen Grundgefühle entwickeln sich im Kinde nur dann optimal, wenn die Mutter dessen natürliche Bedürfnisse in einer Atmosphäre liebender Geborgenheit befriedigt. Darum ist für Pestalozzi denn auch die Wohnstube die eigentliche Basis jeglicher Erziehung. Alles weitere muss die Wohnstubenerziehung weiterführen und ergänzen, so auch die Schule. Diese kann allerdings eine Wohnstube niemals ersetzen. Eine Lehrerin ist eben doch nicht die Mutter, und ein Lehrer ist nicht der Vater, aber fruchtbar kann die schulische Erziehung nur sein, wenn alles Erzieherische getragen ist durch eine warmherzige, offene zwischenmenschliche Beziehung. Nach Pestalozzi bildet sich der Mensch „wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, nur von Herz zu Herz menschlich.“ (PSW 24 A, 19) Erziehung ist ihm immer ein personales Geschehen, und es ist die wichtigste Fähigkeit des Pädagogen, jedes Kind als Individualität mit liebendem Blick wahrnehmen und auf seine seelischen Regungen eingehen zu können.
Nach Pestalozzi ist dies alles nur möglich in der Grundgestimmtheit der Ruhe. Dieser Zustand des inneren Beruhigtseins entsteht im Kinde einerseits durch die erwähnte Befriedigung seiner Bedürfnisse (nicht: Erfüllung seiner Wünsche), andererseits durch die Ausstrahlung liebender Gelassenheit der Erzieher. Pestalozzi wird nicht müde, den Segen dieser inneren Ruhe für die sittliche Entwicklung des Kindes zu betonen. So schreibt er in seinem letzten grossen Werk, im „Schwanengesang“ (1826): „Das Wesen der Menschlichkeit entfaltet sich nur in der Ruhe. Ohne sie verliert die Liebe alle Kraft ihrer Wahrheit und ihres Segens. Die Unruhe ist in ihrem Wesen das Kind sinnlicher Leiden oder sinnlicher Gelüste; sie ist entweder das Kind der bösen Not oder der noch böseren Selbstsucht; in allen Fällen aber ist sie die Mutter der Lieblosigkeit, des Unglaubens und aller Folgen, die ihrer Natur nach aus Lieblosigkeit und Unglauben entspringen.“ (PSW 28, 63)
In dieser Atmosphäre des Beruhigtseins und der Annahme durch die Mitmenschen wächst nach Pestalozzis überzeugung in der Seele des Kindes eine „sittliche Gemütsstimmung“: Das Kind ist bereit, mit andern zu teilen, andern zu helfen und ihnen etwas zuliebe zu tun, womit sich seine Herzenskräfte entfalten. Diese lassen sich nach Pestalozzis Erkenntnis niemals durch Druck, Nötigung oder Zwang in Tätigkeit versetzen, sondern nur durch das seelisch-geistige Leben des Erziehers selber. Liebe im Kinde lässt sich nur durch die Liebe zum Kinde wecken.
Vertrauen entsteht nur dadurch, dass der Erzieher dem Kinde vertraut. Ehrfurcht vor dem Leben, religiöser Glaube, Zuneigung zu allen Geschöpfen – das alles lässt sich im Kinde nur erwecken, wenn es diese Haltungen im Erwachsenen spürt. Darum wird das Innenleben des Erziehers für die sittliche Entwicklung des Kindes zum Schicksal. Was in der Seele von Eltern und Lehrern lebt, bringt Entsprechendes in der Seele des Kindes zum Schwingen.
Äußere und innere Anschauung
Pestalozzi hat die Anschauung als „das absolute Fundament aller Erkenntnis“ (PSW 13, 309) bezeichnet. Dabei hat er zuerst einmal die Begriffsbildung des Kindes im Auge. Diese „äussere“ Anschauung dient somit der Entwicklung der Kräfte des Kopfs (siehe unten). Aber daneben postuliert er auch noch die „innere“ Anschauung. Dabei handelt es sich um das innere sittliche Urteil im Rahmen einer äusseren Anschauung oder irgend eines Erlebnisses. In der inneren Anschauung leben heisst: sich durch das sittliche Leben der Mitmenschen innerlich erhoben fühlen, die Bedeutung geistiger Werte für das menschliche Leben erspüren, die Verantwortung für sein Tun, ja den Sinn seines Tun intuitiv erleben. Für Pestalozzi ist klar, dass die Sittlichkeit eines Menschen eine direkte Folge der Möglichkeit ist, als Kind zur inneren Anschauung der Sittlichkeit gekommen zu sein, sei dies in zwischenmenschlichen Kontakten oder sei es im Erleben fiktiver Ereignisse beim Anhören von Geschichten.
Der Übergang zum eigenen Tun: Gehorsam
Nach Pestalozzis überzeugung muss sich im Kind parallel zu den drei sittlichen Grundgefühlen der Liebe, des Vertrauens und der Dankbarkeit der Gehorsam entwickeln. Dabei hat der natürliche kindliche Gehorsam nichts mit Unterdrückung zu tun, sondern ist im Gegenteil die Grundlage der Freiheit. Diese beruht nach ihm darauf, befreit von den Zwängen der eigenen Selbstsucht und Triebhaftigkeit dem eigenen Gewissen gehorchen zu können. Diesen Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen kann aber nach Pestalozzis überzeugung ein Kind nur dann leisten, wenn es zuerst den Gehorsam gegenüber den Erziehern kennengelernt und eingeübt hat. Deshalb bezeichnet Pestalozzi den Gehorsam als die „sittliche Grundfertigkeit“.
Nun fragt sich Pestalozzi, wie sich der Gehorsam naturgemäss entwickelt, und stellt fest, dass dieser zuerst als passiver Gehorsam, als Warten-Müssen und Warten-Können, und erst nachher in seiner aktiven Form auftritt, d.h. als Fähigkeit, sich dem Willen des Erziehers zu fügen. Gehorsam kann sich allerdings nur entwickeln, wenn sich der Erzieher durch Festigkeit auszeichnet, die eingebettet ist in die erzieherische Liebe. In diesem Fall fühlt sich das Kind durch die Gehorsamsforderung auch nicht belastet oder gekränkt, sondern nimmt sie in der Regel selbstverständlich hin.
Eine Liebe, die auf Gehorsam verzichten zu können glaubt, wäre nach Pestalozzi Schwächlichkeit, „tierische“ Liebe; ist sie hingegen mit Festigkeit und Verantwortungsgefühl gepaart, wird sie nach Pestalozzis berühmtem Wortlaut zur „sehenden Liebe“ (PSW 21, 228). Diese gibt dem Kind Halt, setzt Massstäbe und notwendige Grenzen.
Im Rahmen der Entwicklung sittlicher Kräfte ist nach Pestalozzi das sittliche Tun auf der Basis des Gehorsams die zweite Stufe (erste Stufe: sittliche Gemütsstimmung). Die dritte und letzte Stufe sind die deutlichen sittlichen Begriffe, das Nachdenken und Reden über Sittlichkeit. Also: Erst soll das Kind sittliches Leben fühlen (Herz), dann soll es das Gute tun (Hand), und schliesslich folgt die Reflexion (Kopf). Mit dieser Auffassung stellt sich Pestalozzi dem Rationalismus entgegen, der glaubt, sittliches Leben einzig auf die Vernunft gründen zu können. Pestalozzi lehnt dies aus zwei Gründen ab: erstens, weil man mit der moralischen Erziehung des Kindes gar nicht so lange warten kann, bis sich die Vernunft ausgebildet hat, und zweitens, weil er die Handlungen des Menschen weit mehr im Gemüt als in vernünftigen überlegungen begründet sieht.
Die weiteren Kräfte: Kopf und Hand
Die Herzenskräfte stehen bei Pestalozzi im Zentrum. Intellektuelle und handwerkliche Kräfte (Kopf und Hand) stehen im Dienste der gebildeten Herzenskräfte. Werden diese entfaltet, geht es um „Erziehung“, wogegen Pestalozzi bei der Entwicklung und Stärkung von geistigen und physischen Kräften zumeist von „Bildung“ spricht. Nun sollten Bildung und Erziehung nicht getrennt, sondern miteinander verbunden werden, und zwar so, dass die Bildung zum Mittel der Erziehung wird. Daraus ergibt sich das Konzept des erziehenden Unterrichts. Pestalozzi wollte aber diesen nicht der Schule allein übertragen, sondern trat ein für die „Mutterschule“: Die Eltern, primär die Mutter, sollten sich neben der moralischen Erziehung ihrer Kinder gleichfalls kümmern um eine gezielte Schulung von Kopf und Hand im Rahmen des natürlichen Lebens in der Wohnstube und der täglichen Arbeit. Bei der Bildung geistiger Kräfte (Kopf) steht die Begriffsbildung als Grundlage für das gereifte Urteilen im Zentrum. Im Prinzip geht es hier darum, dass das Kind seine Sinne gebrauchen lernt (Anschauung) und zwar stets in Verbindung mit der Sprache. Dies soll wiederum geschehen im Rahmen liebender Zuwendung durch die Erzieher. Tatsächlich lernt ja ein Kind die Sprache nicht anders als im sozialen Kontakt. Pestalozzi beschreibt bei der Entwicklung der intellektuellen Kräfte einen vierstufigen Gang von der „dunklen Anschauung“ zum „deutlichen Begriff“, der uns hier nicht weiter beschäftigen soll. Von praktischer Bedeutung ist, dass die Kinder die Dinge ihrer Umwelt mit möglichst allen Sinnen intensiv erfahren und deren Erscheinungsbild in allen Details so genau wie möglich sprachlich benennen lernen. Dies ist dann die Basis für das eigenständige Urteil. Pestalozzi spricht sich vehement dagegen aus, die Kinder über alles Mögliche vorschnell urteilen zu lassen.
„Der Zeitpunkt des Lernens ist nicht der Zeitpunkt des Urteilens.“ (PSW 13, 206) Das Urteil sollte sich so, wie eine reife Frucht aus ihrer Schale wie von selbst herausfällt, aus gereiften Anschauungen wie von selbst ergeben.
Bei der Bildung physischer Kräfte (Hand, „Kunst“) geht es um Körperkraft, Geschicklichkeit, Gewandtheit und praktische Anwendung, wobei hier ein untrennbarer Zusammenhang besteht mit der Entwicklung der Geisteskräfte. Auch im Kunst-Bereich beschreibt Pestalozzi einen vierstufigen Gang, der damit anhebt, dass das Kind zuerst auf die richtige Ausfuhrung einer Fertigkeit achtet. Am Ende der Entwicklung steht „Freiheit und Selbständigkeit“, also die kreative Meisterschaft. Fur die pädagogische Praxis ist wiederum die Erkenntnis von Belang, dass die Techniken im Umgang mit Werkzeugen und in der Verwendung von Materialien in oft jahrhundertelangen Prozessen gesellschaftlich entwickelt wurden und darum auch gesellschaftlich zu vermitteln sind, während die Inhalte weitgehend der Freiheit der Lernenden anheim gestellt werden sollen.
Das wesentliche Entfaltungsmittel: Gebrauch der Kräfte
„Entfaltung von Kräften und Anlagen“ ist etwas grundlegend anderes als das „Anfullen eines leeren Gefässes mit Informationen“. In Pestalozzis Bildungskonzept sind die konkreten Lern-Inhalte relativ unwichtig. Wesentlich ist, was im Kinde passiert durch die Auseinandersetzung mit dem Stoff. Es soll diesen nicht einfach aufnehmen, sondern durch die Behandlung des Stoffs verändert, d. h. stärker werden. Im Zentrum steht nicht die Vermittlung von Wissen, sondern der Erwerb von Können. Seine Denk-, Merk-, Vorstellungs- und Urteilskraft soll sich kräftigen, seine Hände, sein ganzer Körper sollen stärker, flinker, geschickter, gewandter werden. Und da stellt sich die Frage, wie dies zu bewerkstelligen ist. Fur Pestalozzi ist es unmittelbar einsichtig: „Jede dieser einzelnen Kräfte wird wesentlich nur durch das einfache Mittel ihres Gebrauches naturgemäss entfaltet.“ (PSW 28, 60) Nur durch das Denken selber wird Denkkraft, nur durch das Vorstellen selber wird Phantasie gebildet. Dasselbe gilt fur die Kunst-Kräfte: Nur durch den Gebrauch der Hand wird diese geschickt, nur durch Kraftanstrengung wird der Körper stärker. Und schliesslich gilt dasselbe fur die sittlichen Kräfte: Liebe bildet sich nur durch die Tatsache des Liebens und nicht durch das Reden uber die Liebe, religiöser Glaube entsteht nur durch das Glauben selber und nicht durch das Reden uber den Glauben oder das Wissen und Auswendiglernen von Geglaubtem. Nun ist daran zu erinnern, dass nach Pestalozzis Uberzeugung in jeder Kraft ein Entfaltungstrieb liegt. „Das Auge will sehen, das Ohr will hören, der Fuss will gehen und die Hand will greifen. Aber ebenso will das Herz glauben und lieben. Der Geist will denken. Es liegt in jeder Anlage der Menschennatur ein Trieb, sich aus dem Zustande ihrer Unbelebtheit und Ungewandtheit zur ausgebildeten Kraft zu erheben die unausgebildet nur als ein Keim der Kraft und nicht als die Kraft selbst in uns liegt,“ schreibt Pestalozzi im „Schwanengesang“ (PSW 28, 61).
Alle diese Gedanken, dass Kräfteentfaltung nur durch die Eigentätigkeit des Kindes erfolgen kann, fasst Pestalozzi im Begriff der „Selbsttätigkeit“. Nur tätige Kinder sind in Bildung begriffen. Die zentrale Bedeutung der Selbsttätigkeit macht auch verständlich, weshalb Pestalozzi positiv zur Kinderarbeit stand. Es ging ihm dabei nicht um Ausbeutung, sondern um eine Herausforderung aller Kräfte durch sinnvolle und notwendige Arbeit.
Das Ziel: Harmonie der Kräfte
Immer wieder fordert Pestalozzi, alle Kräfte und Anlagen seien so zu entfalten, dass dem Menschen ein sittliches Leben möglich ist. Dies gelingt dann, wenn die Kräfte des Kopfs, des Herzens und der Hand je optimal entwickelt sind, aber zugleich die physischen und intellektuellen Kräfte den Herzenskräften untergeordnet werden. Dadurch entsteht die Harmonie der Kräfte. Sie wird nach Pestalozzis überzeugung gewährleistet durch die alles verbindende „Gemeinkraft“, welche identisch ist mit der Liebe. Letztlich geht es um Erziehung und Bildung in der Liebe, durch die Liebe, zur Liebe. So lesen wir in Pestalozzis Rede an sein Haus im Jahre 1809: „Die Menschen um uns her erkennen, daß wir uns bei unserem Tun nicht Euren Verstand, nicht Eure Kunst, sondern Eure Menschlichkeit zum letzten Ziel unserer Bemühungen setzen. … Ich suche durch mein Tun Erhebung der Menschennatur zum Höchsten, zum Edelsten – ich suche seine Erhebung durch Liebe, und erkenne nur in ihrer heiligen Kraft das Fundament der Bildung meines Geschlechtes zu allem Göttlichen, zu allem Ewigen, das in seiner Natur liegt. Ich achte alle Anlagen des Geistes und der Kunst und der Einsicht, die in meiner Natur liegen, nur für Mittel des Herzens und seiner göttlichen Erhebung zur Liebe. Ich erkenne nur in der Erhebung des Menschen die Möglichkeit der Ausbildung unseres Geschlechtes selber zur Menschlichkeit. Liebe ist das einzige, das ewige Fundament der Bildung unserer Natur zur Menschlichkeit.“ (PSW 21, 226 f.)